Ein umgestoßenes Weinglas, ein Name, der uns nicht einfallen will – kleine Missgeschicke, die große Wirkung entfalten. Oft genügt ein Augenblick, um vor Scham im Boden versinken zu wollen. Doch Scham ist kein universelles Naturgesetz. Sie ist erlernt – und lässt sich auch wieder entlernen.
Soziologen weisen darauf hin, dass Scham in jeder Gesellschaft anders bewertet wird. Was wir als beschämend empfinden, hängt stark von unserer Erziehung, den sozialen Normen und unserem kulturellen Umfeld ab. „Bei massiver Scham übernimmt unser Reptiliengehirn die Kontrolle“, erklärt der Sozialwissenschaftler Dr. Stephan Marks. „Dann reagieren wir instinktiv mit Angriff, Flucht oder Rückzug.“
Doch statt zu erstarren oder sich zu verstecken, rät Marks zur Offenheit: „Wer sich zu seinem Missgeschick bekennt, nimmt ihm die Macht.“ Schon ein Satz wie „Oh, das ist mir jetzt wirklich peinlich“ kann die Situation entkrampfen. Studien zeigen, dass Menschen, die erröten oder sich entschuldigen, oft sympathischer wirken und schneller verziehen werden.
Verletzlichkeit zulassen, Mitgefühl entwickeln
Die amerikanische Sozialforscherin Brené Brown sieht in der Akzeptanz der eigenen Verletzlichkeit einen zentralen Schlüssel im Umgang mit Scham. „Nur wer sich erlaubt, verletzlich zu sein, kann echte Verbundenheit und Selbstmitgefühl entwickeln“, so Brown. Sich selbst mit Güte zu begegnen, statt mit innerer Härte, sei ein entscheidender Schritt aus dem Teufelskreis der Selbstverurteilung.
Auch der Psychologe Paul Gilbert betont die Bedeutung von Mitgefühl – nicht nur gegenüber anderen, sondern vor allem gegenüber sich selbst. In seiner „Compassion-Focused Therapy“ lehrt er Techniken zur Reduzierung von Selbstkritik und zur Entwicklung innerer Freundlichkeit. Schon kleine Übungen der Achtsamkeit können laut Gilbert helfen, die Wucht der Scham abzuschwächen.
Denken relativieren, statt katastrophalisieren
Doch nicht nur emotionale, auch kognitive Strategien können helfen. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman warnt davor, Missgeschicke zu überbewerten. Oft würden wir in Gedanken dramatisieren oder „katastrophisieren“, wie es in der Psychologie heißt. Eine realistischere Sichtweise kann laut Kahneman helfen, die eigene Reaktion zu relativieren und gelassener zu bleiben.
Ein weiterer wichtiger Punkt: die Reflexion über gesellschaftliche Erwartungen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman empfahl schon in den 1960er-Jahren, soziale Rollen und Normen bewusst zu hinterfragen. Wer versteht, dass viele unserer Schamgefühle durch äußere Zuschreibungen entstehen, kann sich davon ein Stück weit lösen.
Hilfe bei tiefer Scham
In manchen Fällen reicht die eigene Reflexion nicht aus. Wenn Schamgefühle chronisch werden oder auf traumatische Erlebnisse zurückgehen, kann professionelle Hilfe notwendig sein. Der amerikanische Psychologe John Briere betont, dass besonders tief verwurzelte Scham oft therapeutisch begleitet werden muss. In der Praxis zeigen sich gute Erfolge mit integrativen Verfahren, die sowohl emotionale als auch kognitive Techniken kombinieren.
Vorbild sein – oder sich Vorbilder suchen
Nicht zuletzt hilft es, sich klarzumachen: Jeder Mensch erlebt Missgeschicke. Der Psychologe Albert Bandura verweist darauf, dass Beobachtungslernen ein wirkungsvoller Weg zur Veränderung ist. Wer andere dabei erlebt, wie sie souverän mit peinlichen Situationen umgehen, kann selbst daran wachsen – oder umgekehrt: durch das eigene Verhalten Vorbild für andere werden.
Scham ist menschlich – aber nicht unüberwindbar
Schamgefühle sind tief in uns verankert, doch sie müssen uns nicht lähmen. Wer sie als Teil des sozialen Miteinanders versteht, sich selbst Mitgefühl entgegenbringt und die eigenen Denkgewohnheiten überprüft, kann auch peinliche Momente mit mehr Gelassenheit meistern. Und vielleicht sogar mit einem Lächeln.ken umzugehen.