Großeltern machen erwachsenen Kindern oft ziemlich Druck. Kann eine Familienbande zu eng sein? Wie findet man die Balance zwischen Abstand und Nähe?
Anzunehmen, dem Kindsein dadurch entkommen zu sein, weil man die 20, 30 oder 40 Jahre Lebenszeit überschritten hat, führt in die Irre. Wer sich als Erwachsener sieht, weil er oder sie nun weiß, wo es langgeht im Berufsleben, oder weil man selber Kinder hat, der irrt.
Denn spätestens im Umgang mit den eigenen Eltern werden erwachsene Kinder unerbittlich daran erinnert, wer sie besser zu kennen glaubt, als sie sich selbst. Und wer deshalb gern darüber befindet, was für sie gut ist: Mama und Papa.
Übermäßige Fürsorge
So geht es auch Adelina, 36, Industriekauffrau: Wenn ihre Mutter im Fernsehen eine Sendung über vergifteten Joghurt sieht, ruft sie mit gluckenhafter Fürsorge auch spätabends um 23 Uhr noch an: “Kind, guck doch mal in den Kühlschrank!”. Dies hinterlässt bei Adelina stets Widerwillen. Doch mittlerweile weiß sie sich zu wehren. Sie sagt dann: “Mama, das mach ich jetzt nicht.” Und legt auf.
Adelinas Einstellung hat eine lange Geschichte. Schon früh überfuhr die Mutter sie allenthalben mit gut gemeinten Ratschlägen und setzte sich damit über Adelinas Ansichten und Gefühle hinweg. Ein Beispiel: der winterliche Landschulaufenthalt in Dänemark. Da machte sich ihre Mutter Sorgen, ob die Räume für die Schüler auch ordentlich geheizt sind. Ob sie nicht mal vorab anrufen solle? Das verbat sich Adelina. Doch als die Klasse eintraf, sagte der Lehrer, Adelinas Mutter habe schon angerufen und nach der Heizung gefragt. Adelina wäre am liebsten auf der Stelle im Boden versunken.
Auch Michael, 29, handelt oft nach den Wünschen seiner Eltern. Seine Mutter hat Rheuma, langweilt sich und erwartet, dass er jeden Sonntag zum Mittagessen aus der Großstadt anreist. “Meine Mutter tut mir Leid”, sagt er resigniert. Also fährt er hin. Auch wenn er lieber mit seiner Freundin zu Hause bliebe nach einer harten Arbeitswoche.
Doch es reicht nie. Immer fordern die Eltern mehr. Als die Eltern für zwei Wochen ans Meer fuhren, kam er für ein Wochenende nach. Aber das war nicht genug. “Was sollen wir denn bei dem schlechten Wetter hier die ganze Zeit tun?”, jammerte die Mutter. Also fuhr er nochmal hin. Gewissensbisse machten sich breit. Warum konnte er bloß nie rechtzeitig Nein zu den Eltern sagen?
Aufstand fällt schwer
Vordergründig geht es oft um ganz banale Dinge, und oft fragen sich die Kinder, ob man diesmal wegen einer scheinbaren Lappalie den Aufstand proben will: der Kaffeebesuch am Sonntag, der Anruf danach, ob man gut angekommen ist. Häufig begleitet erwachsene Kinder leiser Widerwillen oder ein diffuses Schuldgefühl, wenn sie versuchen, sich den Wünschen ihrer Eltern zu widersetzen.
Doch dahinter stehen oft massive Ängste. Wenn Kinder in ihrer Entwicklung nicht die Erfahrung machen konnten, dass sie geliebt werden, auch wenn sie eine andere Position beziehen oder eine eigene Meinung vertreten, können sie das notwendige Vertrauen nicht entwickeln, wissen Familienpsychologen. Solche Menschen sagen aus Angst vor Verlust zu ihren Eltern und auch zu anderen Menschen ständig Ja, obwohl sie das gar nicht wollen. Auch wenn sie schon lange erwachsen sind. Und geben nach. Rufen an. Fahren hin.
Der Preis für die Folgsamkeit ist hoch. Zwischen scheinbaren Banalitäten und tatsächlichen Grenzüberschreitungen liegt nur ein schmaler Grad. In jeder Familie gibt es Konflikte. Aber trotzdem dürfen sowohl die Kinder als auch die Eltern ohne massive Schuldgefühle eine eigene Meinung haben. Gute Eltern-Kind-Beziehungen haben eine solide, vertrauensvolle Basis mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Bezogenheit und Abgrenzung, raten Experten. Sowohl Eltern als auch Kinder müssen die unterschiedlichen Rollen und die damit verbundenen Grenzen des Möglichen respektieren.
Unfähig zum Nein
Problematisch wird es, wenn die Kinder sich selbst und ihre Interessen verleugnen, damit der Kontakt zu ihren Eltern fortbestehen kann. Besonders unfähig, Nein zu sagen sind Kinder, deren Eltern auch noch mit Liebesentzug reagierten. Bestrafung dadurch, dass man nicht mehr mit dem Kind spricht.
Dies kann sich in späteren Jahren mit der Angst koppeln, “enterbt” zu werden – in jeglicher Hinsicht, in materiellen wie in emotionalen Dingen. Solche Kinder tun sich in ihrem Erwachsenenleben besonders schwer damit, sich abzugrenzen. Se werden unsicher, ihr Selbstwertgefühl entwickelt sich nur schwach. Sie versuchen vergeblich, durch Wohlverhalten bei ihren Eltern Schuldgefühle und Verlustängste zu umgehen.
Günther ist so ein Fall. Seine Eltern bedrängten ihn, statt der gewünschten Maurerlehre sein Abitur zu machen – und dann sollte er einen akademischen Beruf erlernen. Die erste große Machtprobe. Als er nach dem Abitur Zivildienst leisten wollte, setzten ihn seine Eltern wieder unter Druck: Sie forderten, dass er sie, vor den Russen aus Ostpreußen geflohen, im Zweifel müsse verteidigen können. Sie machten ihm massive Schuldgefühle. Günther gab wieder nach und ging zur Bundeswehr. Und so ging es weiter.
Doch solche Machtproben mit Kindern haben neben massiven Grenzverletzungen unter anderem zur Folge, dass Eltern immer größere Geschütze auffahren müssen, um weiterhin die Kontrolle zu behalten. Das schadet jeder Beziehung. Und am Ende verstehen die Eltern nicht, warum die Kinder in ihren Augen so undankbar sind und sich womöglich entziehen. Wo man doch immer nur das Beste wollte.
Günther begann nach dem Bund lustlos ein Biologiestudium und hängte es nach zehn Jahren elterlicher Finanzhilfe ohne Abschluss an den Nagel, um eine Gärtnerlehre zu machen. Seine Eltern verstanden die Welt nicht mehr. Sie waren maßlos enttäuscht. Heute arbeitet er bei einer Gärtnerei, ist seit fünf Jahren mit Lili verheiratet. Sie haben einen zweijährigen Sohn und erwarten ihr zweites Kind. Doch richtig gelöst hat sich Günther immer noch nicht. Er macht sich lieber vor, die Situation sei ja gar nicht so schlecht.
Viele Eltern können ihren Kindern keine Grenzen zugestehen, aus welchen Gründen auch immer. Doch Kinder sind autonome Menschen. Und Eltern sollten einen Rahmen schaffen, in dem die Autonomie dem Alter des Kindes entsprechend gefördert wird. Das bedeutet, kleine Kinder nicht zu überfordern mit Eigenständigkeit. Ältere Kinder und Erwachsene hingegen haben ein Recht darauf, diese zu leben. Ohne Einmischung der Eltern. Und wer mit 16 weiß, dass er Maurer werden möchte, den sollte man auch entsprechend machen lassen. Selbst wenn er scheitern sollte – wir leben in einem Zeitalter, in dem es ohnehin kaum noch homogene Berufswege und Lebensläufe gibt.
Einmischung stoppen
Eltern haben ihre Kinder aufwachsen sehen, haben ein Bild von ihnen im Kopf und tun sich schwer damit, dieses im Laufe der Jahre umzuschreiben. Weil die Lebenssituationen sich ständig ändern und gerade Familien und Beruf heute einen anderen Stellenwert und eine andere Halbwertzeit haben.
Weil sie sich Sorgen machen, tun sich Eltern manchmal schwer damit, los zu lassen. Weil sie auf ihre Kinder die eigenen Erwartungen projiziert haben, die das Leben ihnen nicht erfüllt hat oder die sie sich selbst nicht erfüllt haben. Dann wollen sie das Bild nicht umschreiben. Lieber füllen sie mit dem Leben ihrer Kinder ihre eigenen Defizite auf. Sie fordern Dank und fördern Schuldbewusstsein. Sie können nicht anders. Sie versuchen, aus Angst heraus über ihre Kinder Kontrolle auszuüben.
Als Kind befreit man sich aus solchen Verstrickungen, indem man seine eigenen Gefühle Ernst nimmt, sich damit auseinandersetzt. Diese Verstrickungen erkennt man den Beklemmungen, die sich breit machen. Erinnerungen an alte “Übergriffe” kommen hoch, als die Eltern sich in Dinge einmischen, die sie nichts angingen. Das Verhältnis zu den Eltern lässt sich auf Dauer nur verbessern, indem man sich erst einmal distanziert. Wenn man es schafft, das Verhalten der Eltern und ihre Ängste aus einer anderen Perspektive zu sehen, es nicht mehr so persönlich zu nehmen, hat man schon halb gewonnen.